
Produktionsoptimierung ist längst keine Kür mehr, sie ist Pflicht. Doch viele Unternehmen der Fertigungsindustrie zögern weiterhin, wenn es um die Digitalisierung ihrer Prozesse geht. Die Folge: ungenutzte Potenziale, ineffiziente Abläufe, steigender Druck. Jürgen Rieger, Executive Manager Consulting bei MPDV, spricht im Interview über die Ursachen dieser Zurückhaltung. Er erklärt, wie Unternehmen den Wandel dennoch schaffen können. Dabei wird klar: Digitalisierung ist kein reines IT-Thema, sondern eine strategische Aufgabe, die Mensch, Prozess und Technologie zusammenbringen muss. Rieger beschreibt, warum eine fundierte Standortbestimmung der erste Schritt ist, wie eine realistische Roadmap aussehen kann und was es braucht, um Produktionsstandorte in Deutschland zukunftsfähig aufzustellen.
Produktionsunternehmen kämpfen mit der schwachen Wirtschaftslage, steigenden Kosten und Wettbewerbsdruck, aber auch Fachkräftemangel und Regulierungen. Wie gelingt es Produktionsunternehmen, angesichts der vielen Herausforderungen, sich zukunftsfähig aufzustellen?
Alle aufgeführten Herausforderungen sind richtig, die Konsequenz daraus darf aber nicht sein, den Kopf in den Sand zu stecken. Gerade in der Produktion, gab es schon immer Problemstellungen und wird es auch immer geben. Letztendlich geht es darum, im Umfeld der direkten Mitbewerber die Pole Position zu besetzen bzw. zu verteidigen. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dabei ist, tagtäglich dranzubleiben. Also im Grunde den klassischen kontinuierlichen Verbesserungsprozess in der Unternehmenskultur zu verankern.
Welche Voraussetzungen sind für eine Produktionsoptimierung nötig?
Besonders wichtig sind das Commitment des Managements für den Prozess und die Standortbestimmung, also die Ist-Analyse der vorhandenen Abläufe. Wie laufen die Prozesse und wie arbeiten wir heute wirklich? Das sind Fragen, die beantwortet werden müssen. Hiermit ist nicht die Prozessbeschreibung im Managementhandbuch gemeint. Es kommt darauf an, die Prozesse der Mitarbeiter, die tagtäglich damit arbeiten, zu untersuchen. Zu klären ist auch: Kann und will ich das selbst leisten oder hole ich mir dafür Experten? Aber keine reinen IT-Experten mit der Lösung in der Tasche, sondern Spezialisten mit Erfahrung in Lean Management, um Verschwendung in Unternehmensprozessen zu vermeiden und die passende Lösung zu finden.
Oft heißt es, dass die Digitalisierung in der Industrie zwar fortschreitet, es aber dennoch großes Aufholpotenzial besteht. Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Ganz klar in der Veränderungs- und Umsetzungsbereitschaft. Wir sehen tagtäglich Unternehmen mit enormem Potenzial in puncto Digitalisierung. Oft sind die technischen Lösungen wie moderne Steuerungen, Sensorik, IT-Systeme, etc. schon vorhanden, um die Potenziale der Datentransparenz zu heben. Es gibt eigentlich keinen Grund, in Untätigkeit zu verharren.
Viele Produktionsunternehmen schrecken angesichts der schier unendlichen Lösungsauswahl für die Digitalisierung ihrer Betriebe zurück. Was würden Sie Ihnen empfehlen?
Der erste wichtige Schritt ist die Standortbestimmung. Das klingt zunächst aufwändig und zeitraubend. Mit Unterstützung von Experten, die das schon oft gemacht haben, lässt sie sich schnell und effizient durchführen. Die Ist-Analyse deckt Schwachstellen und Potenziale auf und schafft Klarheit bei der Priorisierung der Aufgaben. Damit wird auch die Lösungsauswahl kleiner.
Warum sollte eine fundierte Strategie vorliegen und auf welche Zeitspanne ist sie idealerweise ausgelegt?
Die Strategie muss klären, wo Sie mit Ihrem Unternehmen, mit dem Werk oder mit der Produktion hin wollen oder müssen. Daraus lassen sich die Anforderungen an die Prozesse und die Systeme ableiten. Aus meiner Sicht ist ein realistischer Zeitrahmen drei bis fünf Jahre. Denken Sie nicht nur an den ersten Schritt, sondern auch an weitere Implementierungsphasen. Gerade bei der Systemauswahl ist das wichtig, damit Sie nicht in eine Sackgasse laufen, sondern ein System auswählen, das Sie langfristig unterstützen kann. Die Strategie muss durchgängig sein. Sie darf nicht zu Widersprüchen oder Interessenskonflikten in der Organisation sowie den Abteilungen führen und muss den handelnden Personen klar sein.
Wie sieht eine Roadmap für den Weg zum digitalisierten Werk, der Smart Factory aus?
Die Roadmap muss sicherstellen, dass Sie den Weg bzw. die Meilensteine vom Ausgangspunkt, die IST-Prozesse, bis hin zum Endpunkt, die strategischen Unternehmensziele, definiert haben. Auf Ihrem Weg müssen Sie jederzeit wissen, wo Sie sich gerade befinden, was die nächsten Schritte sind und ob Sie sich noch auf der gewünschten Route befinden. Das ist jedoch recht komplex: Es geht nicht nur um IT, sondern um Produktionsabläufe und -prozesse, vor allem aber um Menschen, die jeden Tag damit arbeiten.
Können Sie bitte ein konkretes Beispiel nennen, welche Vorteile ein digitalisierter Prozess im Vergleich zu einem analogen bietet?
Nur eines? Dann nehme ich das Thema Transparenz in der Planung. Dabei müssen viele Kriterien berücksichtigt werden: Wie ist die aktuelle Belegung der Maschine? Wann habe ich freie Kapazitäten? Wie lange wird der Auftrag laufen? Ist das Material, das Werkzeug und das erforderliche Personal verfügbar? In der analogen Welt muss der Planer all diese Punkte mit den verschiedenen Bereichen abstimmen, häufig über tägliche Produktionsbesprechungen. Jeder Praktiker weiß, dass all diese Themen hoch dynamisch sind und in der analogen Welt nicht nachgehalten werden können. Hier hilft nur ein System, das alle Kriterien und deren Status kennt. Dadurch versetzt es den Planer in die Lage, die Planung auf Basis richtiger Annahmen zu erstellen. Noch besser wäre, sie gleich systemgestützt erstellen zu lassen.
Wie unterstützen und begleiten Sie Fertigungsunternehmen bei der Digitalisierung von Fabriken und Werken?
Wir klären mit unseren Kunden die strategischen Unternehmensziele, nehmen die Prozesse auf und definieren das kundenspezifische Zielbild sowie die Roadmap. Das führen wir vor Ort durch, schrittweise und in kleinen Paketen. Denn das Tagesgeschäft muss ja weiterlaufen. Akzeptanz unter den Mitarbeitern schaffen wir in Workshops durch Wissensvermittlung. Uns ist wichtig gemeinsam mit unseren Kunden alle Beteiligten auf allen Ebenen ins Boot zu holen.
Was raten Sie Unternehmen, die vor der Entscheidung stehen, ihre Produktion zu digitalisieren?
Worauf warten? Die Herausforderungen werden sich nicht von allein in Luft auflösen und Veränderungsprozesse brauchen Zeit. Wichtig ist die ganzheitliche Betrachtung des Themas: Gehen Sie die digitale Transformation vom Prozess und Ihren spezifischen Anforderungen an. Suchen Sie dann die passenden Digitalisierungstools. Wichtig ist, Lean Management und Digitalisierung in Einklang zu bringen. Viele Unternehmen sind sich dessen leider nicht bewusst, was früher oder später zu Problemen führt. Entweder haben sie ein System gewählt, das ihre Anforderungen nicht abdeckt oder sie wissen nicht, wie sie das System in ihre Prozesse integrieren können.
Wenn Sie an die Produktionslandschaft in Deutschland denken, was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung dieses Wirtschaftszweigs?
Schon allein aufgrund der Kostensituation können wir es uns nicht leisten, Verbesserungspotenziale liegenzulassen. Hinzu kommt der Fachkräftemangel. In der Produktion brauchen wir jederzeit Transparenz über die Prozesse und bei Abweichungen müssen wir sofort gegensteuern können. Durch Automatisierung müssen wir Mitarbeiter von Routinetätigkeiten befreien und durch Assistenzsysteme bei ihrer Arbeit optimal unterstützen. Produktion am Standort Deutschland wird nur mit zielführender und konsequenter Digitalisierung eine Zukunft haben.