
Mit dem neuen Luftschiffhangar der Westdeutschen Luftwerbung ist am Flughafen Essen/Mülheim ein Leuchtturmprojekt entstanden. Der Neubau wurde weitgehend aus nachwachsenden und recycelbaren Baustoffen errichtet. Die Antriebstechniklösung für die Toranlage ist in einer Symbiose aus Schwermaschinenbau, Architektur und Antriebstechnik von SEW-Eurodrive entstanden. Realisiert hat sie der Automatisierungsspezialist Inperfektion.
Die Westdeutsche Luftwerbung Theodor Wüllenkemper (kurz: WDL) betreibt seit 1972 auf dem Flughafen Essen/Mülheim Werbe- und Passagierflüge mit Prallluftschiffen. Ende der 1980er Jahre errichtete WDL einen Hangar, der bis zu zwei Luftschiffen Platz bietet. Die wegen ihrer Farbe und Form liebevoll „Grüne Raupe“ genannte Konstruktion entwickelte sich zu einem echten Hingucker. Dennis Weiler, bei der WDL für Veranstaltungsorganisation zuständig, erklärt: „Gerade in Verbindung mit dem Luftschiff ist das hier ein ganz besonderer Veranstaltungsort.“
Nach über 30 Jahren war es Zeit für etwas Neues. Die „Grüne Raupe“ entsprach einfach nicht mehr den technischen, energetischen und funktionalen Anforderungen. WDL plante daher einen neuen Hangar. Von Anfang an war dieser neue Luftschiffhangar auch als Veranstaltungshalle geplant, inklusive der imposanten Tore: „Gerade bei Veranstaltungen soll es ein Erlebnis sein, wenn sich die Tore öffnen“, so Weiler. „Der Wunsch von WDL an die Architekten war, etwas Innovatives zu schaffen, eine neue Landmarke zu realisieren. Es sollte auch ein Denkmal für unsere beiden Firmengründer Theodor Wüllenkemper und Inge Bachmann sein, das ihr innovatives Denken widerspiegelt.“ Die neue multifunktionale Halle bietet Platz für zwei Luftschiffe oder bis zu 1.500 Gäste. Ihre runde Form weckt Assoziationen an ein auf dem Boden stehendes Luftschiff. An die Stelle der seinerzeit verwendeten Foliendächer ist eine vollständig recycelbare Aluminiumfassade getreten. Die komplette Tragwerkskonstruktion besteht aus 557 Tonnen Holz. Der Neubau entspricht den Kriterien der Kreislaufwirtschaft. Er wurde weitgehend aus nachwachsenden und recycelbaren Baustoffen errichtet und trägt das Nachhaltigkeitszertifikat in Gold der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen.
Know-how aus Automatisierung und Schwerindustrie
Auch das Tor ist eine komplette Holzkonstruktion mit einer 400 Quadratmeter-Fläche pro Torflügel. Jeder von ihnen wiegt 72 Tonnen. Das Öffnen der Torflügel sollte per Knopfdruck erfolgen. „Wir erhielten von den Architekten Entwürfe der Tore, in denen die Grundfunktion vorgegeben war, aber keine Vorgaben für den Antrieb“, erinnert sich Niklas Soesters, Projektleiter bei Inperfektion. Das Unternehmen ist Spezialist für die Entwicklung, Konstruktion, Fertigung und Optimierung von automatisierten Maschinen und Anlagen. Das befreundete Architekturbüro Gronau war für die Ausführungsplanung und Bauleitung des neuen WDL-Hangars verantwortlich. Inperfektion kennt sich sowohl mit filigraner Robotik als auch mit Projekten in der Schwerindustrie und Stahlwerken aus. Neben dem Antriebskonzept lieferte Inperfektion die gesamte Schaltplanung, fertigte die notwendigen Schaltschränke und führte die komplette Verkabelung durch.
Antriebstechnik bewältigt auch starken Wind und Schnee
„Für den Torantrieb haben wir auf Basis eines Kastenträgers mit zwei Radsätzen Fahrwerke entwickelt, die ca. 120 Tonnen tragen können“, berichtet Niklas Soesters. Für den Antrieb hat Inperfektion jedes Rad mit einer Motor-Getriebe-Kombination von SEW-Eurodrive ausgerüstet: „Wir arbeiten schon lange mit SEW zusammen, sind auch Automation Partner“, so Niklas Soesters. „Für dieses Projekt haben wir von den Bruchsalern große Unterstützung bekommen, unter anderem bei der Auslegung der Antriebe.“ Denn als besondere Schnittstelle erforderte das Tor ein Höchstmaß an Präzision und eine integrale Planung in einem interdisziplinären Team.
„Bei der Konzeption der Antriebe mussten zahlreiche Parameter berücksichtigt werden“, erläutert Frank Peifer, Vertriebsingenieur Automatisierungstechnik im Technischen Büro Langenfeld von SEW-Eurodrive. „Man hat nicht jeden Tag ein Projekt, bei dem man für die Antriebsdimensionierung auch Wind oder Schnee einkalkulieren muss. Daher war es wichtig, beim Design der Antriebe in enger Abstimmung mit Inperfektion und dem Architekturbüro zu arbeiten.“ So sollten sich die Tore auch bei einer Windstärke von 4,99 auf der 13-teiligen Beaufort-Skala noch problemlos öffnen und schließen lassen. Das entspricht einer frischen Brise mit Windgeschwindigkeiten um die 30 Kilometer pro Stunde. Die Antriebstechnik musste dafür auf eine maximale Zugkraft von 80 Kilonewton pro Torflügel ausgelegt werden.
Antriebstechnik mit hohem Antriebsdrehmoment in kompakter Bauweise
Erreicht wurde das durch eine Antriebslösung, bei der jedes der vier Räder von einem 15 Kilowatt starken Motor angetrieben wird. Je zwei Motoren werden gemeinsam von einem 30-Kilowatt-Umrichter Movidrive angesteuert, der über Profinet mit einer übergeordneten Steuerung kommuniziert. Um die Torflügel auch bei starkem Wind sicher zu bewegen oder den Schnee vor dem Tor zu „räumen“, muss jedes der beiden Industriegetriebe am Abtrieb ein Drehmoment bis 22 kNm aufbringen, also 44 kNm pro Torflügel. „Die Anforderung bestand darin, ein Getriebe zu finden, das ein hohes Nenndrehmoment hat und gleichzeitig eine kompakte Bauweise. Deshalb haben wir uns für Planetengetriebe entschieden“, erklärt Frank Kleta, bei SEW-Eurodrive zuständig für den Vertrieb von Industriegetriebe-Systemen. Die Wahl fiel dabei auf Industrie-Planetengetriebemotoren der P2-Baureihe. Die Kombination aus kompaktem Planetengetriebe und vorgeschaltetem Kegelstirnradgetriebe ist die optimale Lösung für Anwendungen, die niedrige Abtriebsdrehzahlen bei gleichzeitig hohen Drehmomenten erfordern. Durch das direkt angebaute Vorschaltgetriebe entfallen zusätzliche platzraubende und kostenintensive Komponenten wie Kupplungen, Zwischenflansche und Adapterglocken.
Neben den Hauptantrieben kommen weitere Getriebemotoren von SEW-Eurodrive zum Einsatz: sechs für den Antrieb der Verriegelungen der geschlossenen Tore am Hangardach sowie zwei weitere für die beiden Bodenverriegelungen. Bei der Programmierung der Antriebslösung musste das Zusammenspiel all dieser Komponenten abgebildet werden.
Vielfach ausgezeichneter Luftschiffhangar
Den Ingenieuren ist bei den Toren eine Symbiose aus Architektur und Schwermaschinenbau gelungen, die schon bei vielen Veranstaltungen für echte „Wow-Effekte“ gesorgt hat. Die Hangarkonstruktion wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Die Entscheidung von Zeppelin, ab 2024 ein Luftschiff vom Typ Zeppelin NT dauerhaft im neuen Luftschiffhangar zu stationieren, adelt den Bau zusätzlich.